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Zahnmedizin plus Pädagogik: Ein Konzept für die ganze Familie

By: | Tags: , , , , , , , , , , | Comments: 0 | November 12th, 2020

DENTROPIA heißt die Kinder- und Jugendzahnarztpraxis der beiden Expertinnen aus Rottweil in Deutschland. Dort wird Zahnmedizin und Pädagogik gelebt. Praxisinhaberin und Zahnärztin ist Houma Kustermann. Inmitten ihrer Praxis liegt das Mundgesundheitszentrum und damit das Reich der Gesundheitspädagogin Sybille van Os-Fingberg. Ihre Klientel sind Familien und Kinder, die meist an multipler Karies leiden. Im Mittelpunkt aller gemeinsamen Bemühungen steht immer eine ganzheitliche Rehabilitation. Die Eltern, das Kind und das zahnärztliche Team sind dabei gleichermaßen gefordert, die Gebisssanierung und eine Verhaltensänderung langfristig zu verankern.

Os-Fingberg sieht viele schlimme Fälle, Kinder mit einem völlig vernachlässigten Gebiss, Kinder die Angst haben und Schmerzen kennen. Diesen Kindern muss zahnmedizinisch und pädagogisch geholfen werden. Hierzu ist die Einbeziehung der Eltern notwendig. Nur so kann die Behandlung zum langfristigen Erfolg für das Kind führen. Aber auch Kinder, die völlig gesunde Zähne haben und zweimal im Jahr „zum Nachschauen“ kommen, bekommen im Mundgesundheitszentrum Motivationsimpulse, damit die Zähne gesund bleiben.

Prophylaxe zahlt sich aus

„Unsere Gesellschaft ist im Wandel. Soziale Unterschiede, kinderreiche Familien mit Migrationshintergrund, Ernährungsverhalten und vieles mehr beeinflussen unter anderem die Mundgesundheit in der Familie. Diese Veränderungen wirken sich auch auf die Zusammenarbeit mit den Patienten aus. Neue Ideen und Wege wie zeitgerechte Praxiskonzepte werden benötigt, damit Mundgesundheit von klein auf gelernt und Wissen und Verständnis bis ins Erwachsenenalter aufgebaut werden. “Wir haben ein Konzept ausgearbeitet, das einer individualisierten und nachhaltigen Prophylaxe und Versorgung speziell für Kinder und Jugendliche gilt. Denn sie sind die Patienten von morgen und benötigen unsere Hilfe am meisten“, meint die Gesundheitspädagogin Os-Fingberg. „Ein mundgesundheitsbewusster Patient nimmt Prophylaxe-Angebote wahr, entscheidet sich für qualitativ hochwertigere Versorgungen in der Praxis, und weiß den Wert seiner Zähne und der zahnärztlichen Behandlung zu schätzen.“

Neue Kompetenzen sind gefragt

„Um den Herausforderungen gerecht zu werden und eine lebenslange, positive Einstellung beim Kind und beim Teenager zur Mundpflege und zum zahnärztlichen Team zu erreichen, benötigt das Fachpersonal neue Kompetenzen“, ist Os-Fingberg überzeugt und sie fasst diese so zusammen:

  • Beratungs- und Coachingfähigkeiten für verschiedene Elterngruppen, Kinder und Jugendliche
  • professionelle, altersgerechte und kreative Bildungskonzepte für Kinder und Eltern
  • pädagogische Materialien, die das Fachpersonal unterstützen
  • ein strukturiertes Rehabilitationskonzept für Risikopatienten und ihre Betreuungsperson

Angst abbauen, Kompetenz aufbauen

Die Diagnose multiple Karies ist für Kinder eine schwere Erkrankung, die nur in Narkose behandelt werden kann. „Man muss sich vorstellen, die Eltern kommen in ein ungewohntes, medizinisches Umfeld. Sie bringen Erfahrungen mit, meist keine guten und haben Angst. Bei uns werden sie zuerst in das Mundgesundheitszentrum geführt. Wir stellen Fragen und hören zu! Die Eltern erzählen und die Kinder können spielerisch zeigen was sie schon können und werden spielerisch gelobt. Dabei entsteht Vertrauen. Nach zehn bis fünfzehn Minuten im Mundgesundheitszentrum können wir die Kinder an die Zahnärztin zur Untersuchung übergeben. Ein erster, wichtiger Schritt ist getan, der allen hilft: den Eltern, den Kindern und dem zahnärztlichen Fachpersonal.“

Im Mundgesundheitszentrum werden Bildungsimpulse gesetzt. Lernende sind dabei nicht nur die Kinder, Jugendlichen und ihre Eltern, sondern auch das zahnmedizinische Fachpersonal. Wichtig ist eine Bewusstseinsbildung für die Herausforderungen unserer Zeit auf allen Seiten. „Wenn Eltern mit ihren Kindern gemeinsam lernen, entsteht eine fröhliche Atmosphäre. Viele Eltern sind stolz, weil wir ihnen zeigen, was ihre Kinder schon können. So haben die Eltern nicht das Gefühl, dass sie nur angeklagt werden.“

Gesundheitspädagogik in der Zahnarztpraxis

Gesundheitspädagogik versteht Mundgesundheit, wie auch die allgemeine Gesundheit, als höchstes Gut für die Kinder. Sie orientiert sich an dem Wissenstand des Patienten, dessen Lebenswelt und seine damit vorhandenen Umsetzungsmöglichkeiten. Dadurch stärkt sie das eigenverantwortliche Handeln.

Sie hat die Förderung von Patientenwissen, Erweiterung der Patientenhandlungsmöglichkeit und den Aufbau eines stabilen Vertrauensverhältnisses für die weitere Zusammenarbeit in der Zahnarztpraxis zum Ziel.

Dies ist für die Kinder mit multipler Karies sehr wichtig, denn sie stellt für Kinder eine schwere Beeinträchtigung in ihrer Entwicklung dar. Ohne Vollnarkose können diese kleinen Patienten nicht behandelt werden. Im Rahmen der Gebisssanierung müssen der Patient und dessen Eltern in ein strukturiertes Prophylaxe- und Bildungskonzept eingebunden werden. Das Kind benötigt zuerst Rehabilitation und anschließend Integration in bestehende Prophylaxekonzepte. Für diese Patienten wurde ein Rehabilitationskonzept entwickelt. Dies hat zum Ziel, die wiederhergestellte Mundgesundheit nach der Gebisssanierung für das Kind langfristig zu stabilisieren.

Mitten in der Praxis – das integriertem Mundgesundheitszentrum

In der Kinder- und Jugendzahnarztpraxis DENTROPIA deckt das Mundgesundheitszentrum einen großen Teil der erforderlichen Patientenbetreuung, der Beratungsleistungen und des Mundhygienetrainings ab. Es ist sozusagen der eigentlichen medizinischen Behandlung vorgelagert und auch der Erstkontakt zwischen Patienten und der Zahnarztpraxis. Dadurch werden die Fachbereiche der Kinderzahnheilkunde, die Prophylaxe sowie die Kieferorthopädie entlastet. In den teuer ausgestatteten Behandlungszimmern lassen sich damit die Beratungszeiten durch den Zahnarzt enorm verkürzen. Das Patientenservice wird verbessert und die Patientenmitarbeit steigt.

„Karies ist ja oft ein Problem, das mehrere Familienmitglieder betrifft. Die Angst wird von den Eltern auf die Kinder übertragen. Mit der Angst steigt das Risiko an Karies zu erkranken. Aus dieser Spirale rauszukommen, ist für ein Kind unmöglich. Angstpatienten zeigen wenig Kooperation, nehmen wenig Prophylaxeleistungen in Anspruch und es wird meistens nur das Notdürftige gemacht. In unserem Mundgesundheitszentrum gehen wir einen anderen, neuen Weg“, meint van Os-Fingberg.

In diesem Mundgesundheitszentrum ist ein gemeinschaftliches Lernen von Kindern und Eltern möglich. Es finden dort altersgerechte und kreative Bildungsimpulse statt, wie z. B. Zahnpasta zaubern, Geschichten von Zacki, dem kleinen Zahn und mit dem Zahn-Erzähl-Kino.

Die Handpuppen Zacki oder Kroko vermittelt den Kindern und ihren Eltern wichtige Informationen; sie führen die Kinder durch das Programm. Manchmal werden gleichaltrige Kinder zu Gruppen zusammengefasst. Dies fördert den Austausch unter den Eltern; es unterstützt den gemeinsamen Lernprozess. Bei jedem Prophylaxeimpuls sind ein Besuch in Zackis Zauberhäuschen (Kariestunnel) und ein Zahnputztraining dabei.

Die Teenager und Jugendliche werden durch Kurzfilme und Zahn-Apps in die Reflexion des eigenen Verhaltens gebracht, um sie für die Wertigkeit ihrer Zähne zu sensibilisieren. Anschließend erarbeiten sie dann mit unserer Hilfe eigene Lösungsansätze für ihren Alltag. Das Angebot des Mundgesundheitszentrums für die Eltern der kleinen Patienten umfasst: Tipps für die Mundgesundheitserziehung, Coaching und Beratung für Verhaltensänderungen innerhalb der Familie, Produkt- und Ernährungsberatung. Und so taucht in der Familie manchmal sogar der Wunsch auf „nächstes Mal muss die Oma auch mitkommen. Schließlich schenkt sie den Kindern immer die Süßigkeiten.“

Welche Eltern hast du?

Im Mundgesundheitszentrum von DENTROPIA geht es ganz stark um Eltern-Coaching. Es ist wichtig, die Eltern in die Selbstreflektion zu führen und mit ihnen ein individuelles Konzept für die Mundgesundheit ihrer Familie zu erarbeiten. 612 Eltern-Coaching-Gespräche wurden innerhalb von drei Jahren ausgewertet. Daraus waren für das Rehabilitationskonzept sechs Elterngruppen abzuleiten:

  • Eltern mit Migrationshintergrund: gut oder noch nicht integriert
  • Eltern mit „schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen“: Eltern leben in Trennung und teilen sich die Betreuung des Kindes oder kinderreiche Familien, und Eltern die beruflich stark eingespannt sind,…
  • Eltern mit einer demokratischen Erziehungshaltung: „Unser Kind ist schon sehr selbständig und weiß, was es will“ oder „Ich kann meinem Kind nicht die Zähne putzen, wenn es das nicht will“, oder „Unser Kind bestimmt selbst, was es essen möchte‘“,….
  • Eltern mit Wut und wenig Reflexionsmöglichkeiten: „Wir haben unserem Kind immer die Zähne geputzt“, Der letzte Zahnarzt hat uns falsch beraten/schlecht gearbeitet, „Die Zuckerindustrie und die Werbung sind schuld“,…
  • Eltern, die „gut“ informiert sind und sehr bewusst leben: „Wir süßen nur mit Honig“, „Fluorid ist giftig und ein Abfallprodukt der Industrie“,…
  • Eltern mit geringem Gesundheitsbewusstsein

Vom Risikopatienten zum treuen Patienten

Os-Fingberg definiert den Erfolg des Mundgesundheitszentrums so: „Vertrauen entsteht nicht auf dem Zahnarztstuhl, sondern dort sollte es schon vorhanden sein. Es ist Aufgabe der Mundgesundheitspädagogik dieses Bewusstsein zu fördern. Wir haben bei Dentropia die Rahmenbedingungen (einen Raum) dafür geschaffen und bilden unsere Mitarbeiterinnen zu Mundgesundheitspädagoginnen aus.“ Diese dreiteilige Fortbildung bietet Sybille van Os-Fingberg in ihrem Unternehmen Coaching-Beratung-Training an.

Sybille van Os Fingberg

Fotos:

oben: © dentropia, Nico Pudimat

Portrait: © Jürgen Reiter