Wo ist die aggressive Parodontitis hin
Parodontale und periimplantäre Erkrankungen: Die neue Klassifikation
Von Dr. Corinna Bruckmann, MSc, Präsidentin der ÖGP und
Priv. Doz. Dr. Kristina Bertl, PhD, MBA, MSc, Vizepräsidentin der ÖGP
Im Juni 2017 wurde auf einem internationalen Workshop in Chicago eine neue Klassifikation erarbeitet. Seit nun bereits fast zwei Jahren liegt die deutsche Übersetzung vor. Diese wird nun weltweit an den Universitäten gelehrt. Durch den großen Wissenszuwachs vor allem aus dem Bereich der genetischen und biologischen Grundlagenforschung in den vergangenen zwanzig Jahren bestand die Notwendigkeit zur Entwicklung eines neuen Rahmenwerks (Tabelle 1).
Eine Klassifizierung muss als internationale Sprache aktuelles Wissen mit Ansprüchen von Praktikern, Kostenträgern, Gesundheits- und Forschungseinrichtungen verbinden, die Kommunikation über Diagnosen, Krankheitshäufigkeiten, Therapien und Forschungsergebnisse erleichtern und angewendet auf den Einzelnen rasch zu einer richtigen Diagnose führen.
Diese neue Klassifizierung bietet Anleitungen, wie Sie Parodontalprobleme in Hinsicht auf den Schweregrad und die zu erwartende Komplexität der Therapie für jeden einzelnen Patienten einordnen können.
Auf einen Blick: Was ist ganz neu?
- Erstmals definiert: Parodontale Gesundheit, sowohl im normalen als auch im reduzierten Parodont.
- „aggressive“ und „chronische“ Parodontitis ersetzt durch Stadien (I-IV) und Grade (A-C).
- Neuklassifikation der mukogingivalen Rezessionen
- Erstmals definiert: Periimplantäre Gesundheit, periimplantäre Mukositis und Periimplantitis.
Parodontale Gesundheit und gingivale Erkrankungen werden mittels Parosonde unterschieden!
Parodontale Gesundheit bedeutet keine klinisch messbare Entzündung.
Primäre Messgröße ist dabei das Bluten auf Sondieren (BoP <10%); eine Sondierungstiefe (ST) von ≤3mm gilt als Abgrenzung zur Parodontitis.
Gingivitis ist definiert durch BoP von ≥10% aber ohne erhöhte Sondierungstiefen (außer ev. Pseudotaschen bei Hyperplasien). Es wird zwischen plaqueinduzierten (ev. noch durch systemische und lokale Faktoren beeinflusst) und nicht-plaqueinduzierten Zuständen (z.B.: Infektionen, Traumen, Neoplasmen, u.ä.) unterschieden.
Die Behandlung einer Gingivitis/Parodontitis sollte zur Wiederherstellung klinisch gingivaler Gesundheit führen. Diese wird wie folgt definiert:
Stabile Verhältnisse NACH Paro-Therapie: Attachmentverlust vorhanden, aber keine Schwellung, keine Rötung, ST ≤4mm, BoP <10%
Nach erfolgreich behandelter Parodontitis bleibt jedoch das Krankheitsrisiko zeitlebens bestehen, sodass diese Patienten eine unterstützende Parodontaltherapie (UPT, Recall) in einem individuell zu bestimmendem Intervall benötigen.
Parodontitis: Wo ist die aggressive Parodontitis hin?
Primäres Kennzeichen von Parodontitis ist der Verlust von approximalem parodontalem Attachment (AV) aufgrund einer Entzündung von ≥2mm an ≥2 nicht benachbarten Zähnen. Knochenverlust an nur einem Zahn ist meist endodontisch bedingt.
Es gibt keine biologische Grundlage, um „chronische“ von „aggressiver“ Parodontitis zu unterscheiden. Daher werden ab jetzt nur mehr drei Formen von Parodontitis identifiziert: (1) Parodontitis, (2) Nekrotisierende Parodontitis, (3) Parodontitis als eine direkte Manifestation systemischer Erkrankungen. Die Einordnung erfolgt nach Berücksichtigung von klinischem AV, Ausmaß und Prozentsatz von radiologischem Knochenverlust, bezogen auf das Alter. Das Stadium der Erkrankung (I-IV, Abb. 1) ist abhängig vom Schweregrad des AV, ST, vertikalen Knochendefekten, Furkationsbefall, Mobilität und Zahnverlust durch Parodontitis. Der Grad der Parodontitis beschreibt das Risiko für Progression (Grad A –niedrig, Grad B – moderat, Grad C – hoch, Abb. 1). Die seit langem als eindeutig assoziiert bekannten Risiken durch Rauchen und (schlecht eingestellten) Diabetes mellitus – werden nun ebenfalls individuell erfasst.
Wie geht es am schnellsten zur Diagnose (Abb. 1 und 2)?
Welches Stadium? Bei Vorliegen eines Röntgenbildes wird die Knochenoberkante in Relation zur Schmelzzementgrenze (SZG) betrachtet. Beträgt der Abstand mehr als 2mm liegt ein Knochenverlust (KV) vor. Im Zahnzwischenraum mit dem größten KV (nicht durch Endoprobleme verursacht) wird das Ausmaß bestimmt: bis ins koronale Drittel oder bereits mehr als die Hälfte der Wurzellänge? Wurden Zähne durch Parodontitis verloren?
Welcher Grad? Aus dem Knochenverlust im Verhältnis zum Alter (<0,25, 0,25-1 oder >1) ergibt sich A-C. gibt es Risikofaktoren (RF)? Wie schwer wiegen diese?
Handelt es sich um ein stabiles reduziertes Parodont (nur radiologische Zeichen, keine ST, kein BoP)? Oder ist es eine progressive Form der Parodontitis? Hier muss zwingend sondiert werden: ST von ≥4mm mit BoP deuten auf Progredienz hin. Falls nur Entzündung aber keine ST vorhanden sind, handelt es sich um eine Gingivitis im reduzierten Parodont.
Wichtig: auch nach einer erfolgreichen Therapie bleibt Parodontitis immer Parodontitis, aber im Idealfall eben stabil!
Endlich eine Klassifikation für periimplantäre Erkrankungen!
Betrachtet man die hohen Prävalenzzahlen für periimplantäre Erkrankungen – rund 43 bzw. 22% der Patienten weisen eine periimplantäre Mukositis bzw. eine Periimplantitis auf (2) – war es unumgänglich, sich auch hier für die Zukunft auf eine gemeinsame Diagnosestellung zu einigen! Dementsprechend wurden im Rahmen des internationalen Workshops in Chicago Kriterien für periimplantäre Gesundheit, periimplantäre Mukositis und Periimplantitis festgelegt (3).
Periimplantäre Gesundheit auch auf reduziertem Knochenniveau!
Periimplantäre Gesundheit zeichnet sich primär durch die Abwesenheit von Entzündungsanzeichen aus; d.h. es liegt eine gesunde, blass-rosa Mukosa vor, die nach dem Sondieren keine Anzeichen für Blutung oder Pusaustritt aufweist und zusätzlich sollten die Sondierungstiefen seit Übergabe der prothetischen Versorgung stabil sein (Abb. 3). Dieser Zustand kann sowohl an Implantaten ohne entzündungsbedingten Knochenverlust diagnostiziert werden als auch an Implantaten nach erfolgreicher Periimplantitistherapie mit entsprechend reduziertem Knochenniveau (Abb. 4d-f).
Wichtig: Ein Remodeling des marginalen periimplantären Knochens innerhalb der ersten 12 Monate nach Übergabe der prothetischen Versorgung bis zu 2mm ist möglich und wird nicht zwangsläufig als entzündungsbedingt angesehen.
Von periimplantärer Gesundheit zu periimplantärer Mukositis und Periimplantitis
Liegen hingegen erhöhte Sondierungstiefen und Entzündungsanzeichen (Blutung auf Sondieren, Pusaustritt, Rötung, Schwellung, etc.) vor, spricht man entweder von einer periimplantären Mukositis oder bereits von einer Periimplantitis. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal ist hierbei das Niveau des marginalen periimplantären Knochens. Liegt ein progressiver KV nach dem Remodeling in den ersten 12 Monaten vor, trifft die Diagnose einer Periimplantitis zu (Abb. 4a-c). Wird hingegen kein entzündungsbedingter KV diagnostiziert, spricht man von einer periimplantären Mukositis (Abb. 5).
Dokumentation der Ausgangssituation!
Zur exakten Verlaufskontrolle sollte sowohl bei Übergabe der prothetischen Versorgung als auch 12 Monate danach stets eine klinische und radiologische Untersuchung durchgeführt werden. Dies erlaubt einerseits bei Erhebung der ST die Dicke der periimplantären Mukosa zu berücksichtigen, als auch das Ausmaß des nicht entzündungsbedingten Remodelings im ersten Jahr nach Übergabe der prothetischen Versorgung abzuschätzen.
Diagnosestellung bei Erstvorstellung
Fehlen Informationen zur Ausgangssituation, gelten folgende Kriterien zur Diagnosestellung einer Periimplantitis:
- Radiologisch verifizierbarer periimplantärer KV ≥3mm
- ST ≥6mm
- Vorliegen von Entzündungsanzeichen
Die neue Klassifikation von parodontalen und periimplantären Erkrankungen war ein wichtiger Schritt sowohl für die tägliche Arbeit am Patienten, für die Kommunikation innerhalb der Kollegenschaft als auch für wissenschaftliches Arbeiten. Sie kann an neue Erkenntnisse angepasst werden und wird uns voraussichtlich wieder viele Jahre begleiten.
Die neue Klassifikation finden Sie unter:
www.oegp.at/2018/12/03/die-neue-ist-da/
Literatur
- Caton J, Armitage G, Berglundh T et al. A new classification scheme for periodontal and peri-implant diseases and conditions – Introduction and key changes from the 1999 classification. J Clin Periodontol. 2018; 45 (Suppl 20): S1-S8.
- Derks J, Tomasi C. Peri-implant health and disease. A systematic review of current epidemiology. J Clin Periodontol. 2015 Apr;42 (Suppl 16): S158-71. doi: 10.1111/jcpe.12334.
- Renvert S, Persson GR, Pirih FQ, Camargo PM. Peri‐implant health, peri‐implant mucositis, and peri‐implantitis: Case definitions and diagnostic considerations. J Clin Periodontol. 2018; 45(Suppl 20): S278–S285.
Parodontale Erkrankungen und Zustände | ||||||||||
Parodontale Gesundheit, Gingivale Erkrankungen
und Zustände |
Parodontitis | Andere das Parodont betreffende Zustände | ||||||||
Parodontale
Gesundheit und gingivale Gesundheit |
Gingivitis:
plaqueinduziert |
Gingivale
Erkrankungen: nichtplaqueinduziert |
Nekrotisierende
parodontale Erkrankungen |
Parodontitis | Parodontitis als
Manifestation einer systemischen Erkrankung |
Systemische
Erkrankungen oder Zustände mit Einfluss auf das Parodont |
Parodontale
Abszesse und Endo-Paro- Läsionen |
Mukogingivale
Deformitäten und Zustände |
Traumatische
okklusale Kräfte |
Zahn- und
zahnersatzbezogene Faktoren |
Periimplantäre Erkrankungen und Zustände | ||||||||||
Periimplantäre Gesundheit | Periimplantäre Mukositis | Periimplantitis | Periimplantäre Weich- und
Hartgewebsdefekte |
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Tab. 1. Übersicht über die neue Klassifikation (nach (1)) |
30-jähriger Patient: generalisierter KV, größter KV zwischen 11 und 21 bis ins
apikale Drittel ➞ Stadium 3 oder 4? Da kein Zahnverlust ➞ Stadium 3.
% KV pro Alter = 75/30 = 2.5 ➞ Grad C
RF: Pat. raucht 15 Zigaretten/Tag!
Frage: Wie ist die klinische Situation? ➞ Parosonde!
Stabiles reduziertes Parodont, Gingivitis oder oder progressive Parodontitis?
Es muss sondiert werden:
Es zeigen sich generalisierte ST ≥ 5 mm mit BoP ➞ Progression, instabile Verhältnisse.
Diagnose: Parodontitis generalisiert, instabil, Stadium III, Grad C, RF Rauchen
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