Die lieben Kinder: Daumenlutscher und Schnullerkind
Beim Begriff Daumenlutscher tauchen unweigerlich Bilder der Kindheit auf: Wer kennt sie nicht, die martialische Struwwelpeter-Geschichte über den armen Daumenlutscher. Dabei vermitteln am Daumen nuckelnde Babies in aller Regel ein wohliges Bild der Zufriedenheit. Schon Embryos nuckeln am Daumen, wie Ultraschallbilder zeigen. Schnuller, Fopper, Duttel – in Österreich gibt es viele regionale, nahezu liebevolle Begriffe, für den beliebten Kindernuckel.
Während manche Kinder gar keinen Bedarf nach dem Schnuller haben, so ist er für viele Babies und Eltern nicht wegzudenken. Und die Industrie hat sich mit dem Nuckel intensiv befasst und ihn „kindgerecht“ gemacht. Allerdings: Zahnfehlstellungen, Überbiss, Kreuzbiss, offener Biss und Verschiebungen der Backenzähne treten bei Nuckelkindern häufiger auf, als bei Kindern, die ohne Schnuller auskommen. Nachsatz: wenn er zu lange verwendet wird. Bis sich die Kiefer durch die Verwendung des Schnullers verschieben, dauert es. Je länger und häufiger ein Kind am Daumen oder Schnuller nuckelt, desto höher ist das Risiko einer Zahnfehlstellung.
Den Schnuller rechtzeitig abgewöhnen
Zahnexperten raten, den Kindern bis spätestens zum dritten Geburtstag den Schnuller abzugewöhnen. Eltern, deren Kinder hingebungsvoll am Nuckel festhalten, dürfen sich ab dem zweiten Lebensjahr ihres Kindes etwas entspannen. Denn dann nimmt das Saugbedürfnis der Kinder automatisch ab, und der Zeitpunkt für eine Entwöhnung wäre günstig.
Babies ist ein starkes Saugbedürfnis angeboren. Das Saugen ist einer der wichtigsten Beruhigungsmechanismen, über die ein Kind verfügt. Es gibt also viele Situationen, bei denen ein Schnuller seine positive Wirkung zeigt. Etwa dann, wenn das Kind unruhig ist, bei Müdigkeit, oder wenn die ersten Zähne erscheinen. Pro und Contra in der Verwendung des Schnullers sind vielfältig. 2005 wurde in den USA eine Studie veröffentlicht, die gar eine Wirksamkeit des Schnullers als Präventivmaßnahme gegen den plötzlichen Säuglingstod bestätigt (Li et al. 2005).
Zahnfehlstellungen entstehen bei intensivem und zu langem Schnullergebrauch
Während der Schnuller früher dem anatomischen Vorbild der mütterlichen Brustwarzen entsprach, so sind moderne Sauggeräte an die kleine Mundhöhle und den Gaumen eines Kindes angepasst. Trotz dieser Weiterentwicklung machen die Folgen des Lutschens ungefähr die Hälfte aller Gebissanomalien im Kindergartenalter aus. (Splieth 2007)
Wird er also zu lange verwendet, so kann es zu einer Verformung des Kiefers mit Fehlstellung der Zähne kommen. Zum Beispiel zu einem offenen Biss, also einem vergrößerten Frontzahnabstand sowie daraus resultierenden Zungenfehlfunktionen. Neben funktionellen Problemen können in Folge ein steigendes Kariesrisiko sowie Sprachstörungen auftreten. Eine andere Fehlentwicklung, bedingt durch zu langes Nuckeln, ist der Überbiss: Der Normwert für die Schneidekantenstufe liegt bei maximal zwei Millimeter. Werte über 2,5 Millimeter deuten auf eine vergrößerte Frontzahnstufe hin. (Splieth 2007, Schopf 2008)
Daumen oder Schnuller, oder besser gar nichts?
Dr. Nicola Meißner, Kinderzahnärztin aus Salzburg und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (ÖGK), kennt die Problematik der Zahnfehlstellungen bei Kindern sehr gut. „Der offene Biss manifestiert sich durch die anhaltende Gewohnheit des Daumen- oder Schnullernuckelns, die über den dritten Geburtstag eines Kindes hinaus geht. Viel seltener ist diese Zahnfehlstellung erblich oder durch bestimmte Syndrome bedingt, aber grundsätzlich ist auch das möglich.“ Meißner weiter: „Jeder, der Kinder hat, weiß aus eigener Erfahrung, wie unterschiedlich das Bedürfnis der Kinder nach einem Schnuller sein kann. Wir verurteilen daher niemanden, sondern versuchen zu unterstützen, wo es notwendig ist.“
Der offene Biss ist eine Zahnfehlstellung, bei der sich die Zahnreihen nicht richtig schließen. Beim Zusammenbeißen der Zähne bleibt eine nahezu elliptische Öffnung, die das Beißen, Kauen und Sprechen behindert. Die Kinder können nur schlecht abbeißen und das Kauen ist schwierig. Auch die Sprachentwicklung kann beeinträchtigt sein. Die Zunge schiebt sich in die Lücke zwischen den Schneidezähnen und die Kinder beginnen oft zu lispeln. Liegt eine Fehlfunktion der Zunge vor, so kann sie weitreichende Auswirkungen haben. Normalerweise liegt sie beim geschlossenen Mund am Gaumen an und stimuliert dadurch das Wachstum des Oberkiefers. Dieser Wachstumsreiz auf den Oberkiefer kann fehlen. Mit einem offenen Biss geht ein erhöhtes Kariesrisiko einher. Denn, kann der Mund nicht richtig geschlossen werden, so führt dies zu einer Mundatmung und die Zähne werden nicht ausreichend von Speichel umspült. Es kommt rascher zu einer Kariesbildung. Dr. Meißner: „Stundenlanges an der Flasche nuckeln, den Daumen ständig im Mund oder den Schnuller tagsüber und in der Nacht zu gebrauchen, kann zu Zahnfehlstellungen führen. Es geht nicht nur um die Zahnstellung, sondern auch die Zunge, die ja ein Muskel ist, der bei offenem Biss in Vorlage kommt und logopädische Schwierigkeiten auslöst. Wir beraten daher Eltern hinsichtlich der Folgen auf die Zahngesundheit ihrer Kinder“. Lutschoffener Biss geht oft mit massiver Karies einher. Kinder, die den Schnuller nur kurz verwenden, zum Beispiel nur zum Einschlafen nehmen und in der Nacht ausspucken sind nicht gefährdet, meint die Zahnexpertin. „Die Tragedauer soll so kurz wie möglich sein. Trösten sollte vom Schnuller entkoppelt werden.“ Der Rat der Zahnmedizinerin an betroffene Eltern: „Die Schnullerentwöhnung sollte sensibel, aber konsequent erfolgen. Individuell gibt es viele verschiedene Tipps dazu – vom Lutschkalender über die Schnullerfee oder das Schnullerschiff bis hin zu hypnotischen Suggestionen bei älteren Daumenlutschern.“
Sind die Schäden zu groß, kann eine Behandlung nur interdisziplinär erfolgen. Eine logopädische Therapie ist dann in jedem Fall anzuraten.
Zur Behandlung eines offenes Bisses kommt je nach Ursache auch eine sogenannten Mundvorhofplatte in Anwendung. Eine Mundvorhofplatte besteht aus einem ovalen Mundstück und einem Griff sowie je nach Anwendung seitlichen Aufbissen oder einem Käppchen. Sie dient dazu, kleineren Kindern das Daumenlutschen, die Verwendung eines Schnullers und andere schädigende Angewohnheiten abzugewöhnen. Außerdem kann sie die Mundmuskulatur und das Schlucken trainieren, ständiger Mundatmung entgegen wirken und zu weit nach vorne stehende Schneidezähne nach hinten korrigieren.
Beim Überbiss (Angle-Klasse II) steht der Oberkiefer vor, weil er im Verhältnis zum Unterkiefer zu groß (Maxilläre Prognathie) bzw. der Unterkiefer zu klein ist (Mandibuläre Retrognathie). Die oberen Schneidezähne haben dadurch zu viel Abstand von den unteren Schneidezähnen. Im Normalgebiss beträgt er nur etwa zwei Millimeter. Diesen Zwischenraum zwischen den Schneidekanten der oberen und unteren Zähne nennt man „Frontzahnstufe“. Die oberen Schneidezähne können dabei nach außen geneigt (Angle-Klasse II/1) oder nach innen verschoben (Angle-Klasse II/2) sein. Gelegentlich sind auch nur die mittleren Schneidezähne nach innen gekippt, während die äußeren nach außen weisen.
Überbiss (Angle-Klasse II): vorstehender Oberkiefer
Foto © Meißner
Die Angle-Klassen sind ein Ordnungssystem, um Zahn- und Kieferfehlstellungen nachvollziehbar zu diagnostizieren und zu bewerten. Sie beschreiben die Lage der ersten großen bleibenden Backenzähne (6-er-Molar) von Ober- und Unterkiefer zueinander. Die Angle-Klassen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von dem amerikanischen Kieferorthopäden Edward H. Angle entwickelt und sie gelten bis heute.
Ein Kreuzbiss hingegen liegt vor, wenn es zu einer Fehlstellung der oberen Zähne im Verhältnis zu den unteren Zähnen kommt. Die offizielle klinische Definition eines Kreuzbisses ist eine abnormale Beziehung von einem oder mehreren Zähnen eines Zahnbogens zu dem gegenüberliegenden Zahn oder den gegenüberliegenden Zähnen des anderen Zahnbogens, verursacht durch eine Abweichung der Zahnstellung oder einer abnormalen Kieferstellung.
Abschließend ein Zitat der Logopädin und zertifizierten Myofunktionstherapeutin, Mathilde Furtenbach. Sie schreibt in dem Newsletter „Stomatologie“ der Österreichischen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (ÖGZMK) unter dem Titel „Einblicke in die Entwicklung der oralen Funktionen und mögliche Störfunktionen“ folgenden bemerkenswerten Satz: „Wird ein Schnuller verwendet, soll er den myofunktionellen Anforderungen entsprechen, damit Schäden am Gebiss möglichst gering gehalten werden. Und vor allem soll er wie ein Medikament eingesetzt werden, d. h. die Schnullergabe braucht eine Indikation, eine Dosierung, eine begrenzte Therapiedauer (=Abgewöhnen), und Nebenwirkungen sind einzukalkulieren.“
Mathilde Furtenbach ist Vortragende beim nächsten Frühjahrssymposium der ÖGK am 27.3.2020 in Salzburg.
Zahnexperten raten, den Kindern bis spätestens zum dritten Geburtstag den Schnuller abzugewöhnen.
Foto © Fotolia, Dream Emotion
Offener Biss: vergrößerter Frontzahnabstand sowie daraus resultierende Zungenfehlfunktionen können zu funktionellen Problemen führen, in Folge steigt das Kariesrisiko, Sprachstörungen können auftreten.
Foto © Meißner
Mundvorhofplatte
Foto © Meißner
Dr. Nicola Meissner: „Jeder, der Kinder hat, weiß aus eigener Erfahrung, wie unterschiedlich das Bedürfnis der Kinder nach einem Schnuller sein kann. Wir verurteilen daher niemanden, sondern versuchen zu unterstützen, wo es notwendig ist.“
Foto © privat
Kreuzbiss: Fehlstellung der oberen im Verhältnis zu den unteren Zähnen
Foto © Meißner
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