Wenn Säuren die Zähne zerstören
Ursachen und Therapien von Zahnerosionen
Zahnschmelz ist die härteste Substanz des menschlichen Körpers. Unter neutralen Bedingungen ist er sehr widerstandsfähig – zu häufiger Kontakt mit Säure kann ihn jedoch aufweichen und in der Folge zu schweren Zahnerosionen führen.
Normalerweise herrscht im Mund ein neutrales oder leicht basisches Milieu (pH-Wert 7,0 bis 7,1). Wirken Säuren von innen – als Magensäure infolge von Sodbrennen oder häufigem Erbrechen – oder von außen durch saure Nahrungsmittel auf die Zähne ein, ist der Speichel normalerweise in der Lage, diese durch so genannte Puffer[1] zu neutralisieren. Eine kurze Säureattacke ist für den Zahnschmelz meist nicht schädlich. Problematisch wird ein saures Milieu aber, wenn es längerfristig oder häufig auftritt: Aus der Schmelzschicht, die großteils aus dem säurelöslichen Phosphat Hydroxylapatit besteht, werden Mineralien ausgewaschen, der Zahnschmelz kann mechanischen Einflüssen nicht mehr standhalten. In der Folge entstehen Zahnhartsubstanzdefekte, so genannte Zahnerosionen. Im Unterschied zu Kariesschäden spielen Bakterien bei der Entstehung von Zahnerosionen keine Rolle.
Ess- und Trinkgewohnheiten
„Als Ursachen von außen kommen etwa Soft Drinks, Energy Drinks, Orangensaft, Wein, aber auch bestimmte Medikamente wie Vitamin-C-Brausen oder Lutschtabletten in Frage“, erklärt DDr. Polina Kotlarenko von der Universitätszahnklinik Wien. „Wer regelmäßig solche Säuren zu sich nimmt, leidet typischerweise unter Defekten der Zahnhartsubstanz. So treten Zahnerosionen etwa typischerweise bei Profisportlern, die häufig säurehaltige Drinks zu sich nehmen, auf. Auch professionelle Weintester sind oft von Zahnerosionen als Berufskrankheit betroffen.“
Neben den Inhaltsstoffen der Nahrungsmittel und Getränke spielt auch die Art der Konsumation eine Rolle bei der Entstehung von Zahnerosionen. Wenn Säuren über einen längeren Zeitraum auf den Zahnschmelz einwirken ist das für den Zahnschmelz besonders ungünstig. „Wenn schon säurehaltige Lebensmittel, dann besser das Glas Orangensaft auf einmal, als über den ganzen Tag verteilt genießen“, sagt Kotlarenko.
Milchprodukte können helfen, den pH-Wert der Mundhöhle auszugleichen. „Sie liefern Kalzium und Phosphate und unterstützen so die Wiederaufnahme von Mineralstoffen in den Zahnschmelz“, erklärt Kotlarenko. „Auch Lebensmittel, die den Speichelfluss anregen, helfen, die Zähne zu reinigen und Säuren zu neutralisieren. Zahnschonende Kaugummis regen ebenfalls den Speichelfluss an und können so die Neutralisation von Säuren unterstützen und die Remineralisierung des Zahnschmelzes fördern.“
Magensäure
Nicht nur die Ernährung, auch der oftmalige Kontakt mit Magensäure durch Sodbrennen oder Erbrechen kann Zahnerosionen verursachen. Sowohl bei Patienten mit einer Reflux-Erkrankung als auch bei Bulimie-Betroffenen treten sehr häufig Zahnerosionen auf. „Die Zahnarztpraxis spielt deshalb eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, eine Reflux-Erkrankung oder Bulimie zu erkennen und eine weiterführende Behandlung einzuleiten“, betont Kotlarenko.
Reflux
Zwischen der Speiseröhre und dem Mageneingang sorgt ein Schließmuskel dafür, dass der saure Mageninhalt nicht in den Ösophagus, die Speiseröhre, zurückfließt. Funktioniert dies nicht mehr, kommt es zum Rückfluss – Reflux. Gelangt der Magensaft bis in den Mundraum, spricht man vom sauren Aufstoßen. Reflux betrifft fast 30% der Bevölkerung. Bekannte Folgen sind die Entzündung der Speiseröhre, die Reizung von Hals und Lunge und die Schädigung des Zahnschmelzes.[1]
Oft bemerken Reflux-Patienten ihre Erkrankung nicht, weil sie weniger unter Sodbrennen, als unter Heiserkeit und trockenem Husten leiden – schwere Zahnschäden treten aber auch bei diesen Patienten gehäuft auf.[2] „Für Reflux-Patientinnen und Patienten sind Schmelzschäden an der Innenfläche der Backenzähne des Ober- und Unterkiefers und der Schneidezähne im Oberkiefer typisch“, sagt die Wiener Zahnärztin DDr. Barbara Thornton, „Auffällig ist das Auftreten dieser Beläge auf nur einer Seites des Gebisses, je nachdem auf welcher Seite der Patient schläft.“[3]
Bulimie
Bulimia nerviosa – auch Ess-Brech-Sucht genannt – ist eine ernsthafte psychische Störung. Es kommt wiederholt zu (meist) heimlichen Heißhungeranfällen mit impulsivem und raschem Verzehr großer Nahrungsmengen. Dies geht einher mit einem Gefühl des Kontrollverlusts über das Essverhalten. Durch selbst herbeigeführtes Erbrechen, wiederholtes Fasten, Missbrauch von Appetitzüglern oder Abführmitteln wird versucht, einem gefürchteten Gewichtsanstieg entgegenzuwirken. Die Betroffenen – der überwiegende Anteil ist weiblich – empfinden sich meist als zu dick. [4] Bulimie-Patientinnen können normal- unter oder übergewichtig sein.
„Laut aktuellen klinischen Untersuchungen treten Zahnerosionen bei rund 30 Prozent der Bevölkerung auf. Bei Bulimie-Erkrankten sind es bis zu 90 Prozent“, informiert Polina Kotlarenko, die als Leiterin der Spezialambulanz für Bulimie an der Universitätszahnklinik Wien besonders viel Erfahrung mit diesem Krankheitsbild hat. „Anfangs kommt es zu einem Verlust des Zahnschmelzes, im weiteren Verlauf wird das darunterliegende Dentin freigelegt. Das kann zu erhöhter Empfindlichkeit bei Temperaturänderungen und Schmerzen beim Genuss von süßen oder sauren Lebensmitteln kommen. Im weit fortgeschrittenen Stadium kommt es zu muldenförmigen Defekten der Zahnsubstanz, die sich bis zur Eröffnung der Pulpa ausweiten und eine Wurzelbehandlung notwendig machen können.“ Wie stark die Erosionen ausgeprägt sind, hänge von mehreren Faktoren ab, erklärt Kotlarenko: „Hier spielen vor allem die Dauer der Erkrankung, die Häufigkeit des Erbrechens, die Speichelpufferkapazität und die Speichelfließrate eine maßgebliche Rolle.“
Typische Zahnschäden bei Bulimie-Erkrankten
- runde Zahnkonturen, die das scharfkantige okklusale Relief eines gesunden Zahnes verloren haben
- statt einer Höckerspitze findet sich oftmals eine Mulde (‚inverser’ Höcker)
- die Schneidekanten der Frontzähne erscheinen ausgedünnt und „durchsichtig“ und können im fortgeschrittenen Stadium erheblich verkürzt sein
- metallische Füllungen können das Zahnniveau überragen
- sekundärer Tiefbiss
- besondere Empfindlichkeit auf heiß, kalt, süß, sauer
„Neben diesen typischen Schäden sollten Zahnärzte und auch Prophylaxe-Assistentinnen bei Schwellungen der Speicheldrüsen, vermindertem Speichelfluss, eingerissenen Mundwinkeln mit trockenen Lippen und Verletzungen am Gaumen und Rachen durch selbstinduziertes Erbrechen an eine Bulimie-Erkrankung denken“, betont Kotlarenko, die in diesem Fall dazu rät, anzusprechen, dass Zahnerosionen vorliegen und ganz allgemein auf die möglichen intrinsischen und extrinsischen Ursachen dafür einzugehen. „Besteht der Verdacht, dass eine Erkrankung wie Bulimie oder Reflux die Ursache für die Zahnerosionen ist, so ist in erster Linie die notwendige allgemeinmedizinische, psychotherapeutische bzw. bei Reflux internistische Betreuung indiziert.“
Was die zahnmedizinische Behandlung der Erosionen betrifft, so gibt Kotlarenko folgende Empfehlungen:
- Kein Zähneputzen unmittelbar nach der Säureexposition (Lebensmittel, Erbrechen), stattdessen besser den Mund mit einer neutralisierenden Flüssigkeit, zum Beispiel einer fluoridhaltigen Spüllösung bzw. Wasser oder Milch ausspülen.
- Eine Zahnpaste mit geringem Abrasionswert und Soft-Zahnbürsten mit abgerundeten Borsten verwenden.
- Zahnbürste mit geringem Druck anwenden.
- Remineralisierung der Zähne mit Kalzium, Phosphat-, Fluorid-Produkten und Anwendung von Produkten zur Herabsetzung der erhöhten Sensitivität der Zähne.
[1] Puffer sind Hydrogencarbonate, Proteine und Phosphate, die vermehrt während des Kauvorgangs gebildet werden.
[2] vgl. Presse-Information: „Saurer Rückfluss attackiert den Zahnschmelz. 29. Mai 2015. Aussender: ConsuMED – Marketing & Public Relations
[3] vgl. Riegler M, Hönig-Robier K.: Nie wieder Sodbrennen. Maudrich Verlag 2014.
[4] zitiert in: Presse-Information: „Saurer Rückfluss attackiert den Zahnschmelz. 29. Mai 2015. Aussender: ConsuMED – Marketing & Public Relations
[5] vgl. https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/kinder-jugend-psychiatrie/erkrankungen/bulimia-nervosa/was-ist-bulimie-bzw-ess-brechsucht/ abgerufen am 2.01. 2018
DDr. Polina Kotlarenko, Leiterin der Spezialambulanz für Bulimie, Universitätszahnklinik Wien
Foto © Universitätszahnklinik Wien
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Abb. 1 : Fortgeschrittene Erosionen mit Schmelzverlust der palatinalen Flächen der Oberkiefer-Frontzähne.
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Abb. 2: Frontansicht mit fortgeschrittenen erosiven Veränderungen. Flächenhafter Schmelzverlust mit breitflächiger Dentinexposition. Die Inzisalkanten der Oberkiefer-Frontzähne weisen erhebliche Verkürzungen auf.
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Abb. 3: Fortgeschrittene Erosion an oralen, vestibulären und okklusalen Flächen mit Totalverlust des Schmelzes bis auf die marginalen Schmelzleisten. Das Dentin ist flächenhaft exponiert.
Foto © Universitätszahnklinik Wien
Abb. 4: Okklusale erosive Veränderungen mit Verlust des okklusalen Reliefs. Statt einer Höckerspitze findet sich eine Mulde („inverser Höcker“).
Foto © Universitätszahnklinik Wien
Abb. 5: Okklusalansicht der Zähne 45, 46, 47. Runde Zahnkonturen mit breitflächiger Dentinexposition, dadurch bedingt die gelbe Zahnfarbe okklusal.
Foto © Universitätszahnklinik Wien
In der Spezialambulanz für Bulimie der Universitätszahnklinik Wien erhalten die Patienten folgende Leistungen: Umfassende zahnärztliche Beratung mit besonderer Berücksichtigung der Krankengeschichte, Aufklärung über zahnmedizinische Folgen der verstärkten Säureeinwirkung, Verhaltensempfehlungen für vorbeugende Maßnahmen, eine detaillierte zahnärztliche Diagnostik, gezielte Maßnahmen zur Remineralisierung sowie Begleitung auch während der Zeit der Psychotherapie und die Behandlung von bereits entstandenen Zahnschäden.
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