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Parodontitis, die keine Parodontitis ist

By: | Tags: , , , | Comments: 0 | November 9th, 2014

Diese Probleme sehen wir in der Prophylaxepraxis häufig: vereinzelte Rezessionen und Stillman Clefts teils in Kombination mit keilförmigen Defekten; all´ diese Probleme sollten beim PA-Patienten aber an ein weiteres Problem denken lassen. Denn sie können parodontale Anzeichen für eine CMD sein. In Praxen, die sich auf die Therapie von Patienten mit Craniomandibulärer Dysfunktion, kurz CMD genannt, spezialisiert haben, weiß man ob der Bedeutung und der Ursache dieser Symptome  – im Gegensatz zum klassischen PARO-Patienten – Bescheid.

Die Mundhygienesitzung eines CMD-Patienten bleibt – bei aller Besonderheit – trotzdem immer auch eine Mundhygienesitzung. Selbstverständlich benötigt ein CMD-Patient in gewisser Hinsicht auch eine spezielle Betreuung. Oft genug ist das Spezielle daran jedoch, es nicht speziell erscheinen zu lassen.

Der klassische CMD-Patient ist weiblich, anspruchsvoll, fordernd, sensibel und steht der Gesundheit des eigenen Körpers häufig skeptisch gegenüber. Viele CMD-Patienten leiden unter einer sehr komplexen Symptomatik, die nur selten in der Zahnheilkunde beheimatet ist und dadurch kaum beachtet wird. Viele geben bei der CMD-Anamnese an, dass sie seit Jahren unter Kopf-, Nacken- und/oder Rückenschmerzen leiden, klagen über Tinnitus, Schwindel und einen enormen Verlust an Lebensqualität. Diese Menschen sind häufig psychisch überlagert und damit für den Behandelnden oftmals anstrengend. Aber wer wäre das nicht?!

Fehlregulation im Kiefer

CMD ist der Überbegriff für die Fehlregulationen der Kiefergelenkfunktionen und der Muskelfunktionen. Dies betrifft nicht nur den Bereich des Kopfes, sondern auch andere Bereiche des Körpers. Der Körper versucht die Fehlstellung der Zähne auszugleichen. Diese Fehlregulationen können funktionell, strukturell und psychisch sein und sind meist mit starken Schmerzen verbunden. Auf das Kiefergelenk bezogen, kann die Ursache in drei Bereichen liegen: Schmerzen der Kaumuskulatur („myofaszialer Schmerz“). Ein weiterer Problemkreis ist eine Verlagerung der Knorpelscheibe im Kiefergelenk („Diskusverlagerung“, „Knacken“) sowie entzündliche oder degenerative Veränderungen im knöchernen Anteil des Kiefergelenks (z. B. „Arthrose“).

CMD-Prophy-Special – warum?

Vor Beginn der Prophylaxesitzung sollten einige Fakten mit dem Patienten abgeklärt werden, die für eine angenehme und für beide Seiten erfolgreiche Behandlung von Bedeutung sind. Wie berührungsempfindlich ist der Patient? Welche Stellen sollte man möglichst meiden bzw. vor Berührung ankündigen? Liegt eine eingeschränkte Mundöffnung vor? Welche Stuhlpositionen sind für beide Seiten angenehm bzw. tolerierbar? Dem Patienten sollte Empathie entgegengebracht werden. Individuelle Besonderheiten sollten vor Beginn abgefragt und im Verlaufe der ersten Minuten der Behandlung vorsichtig ausprobiert werden.

Weitere Aspekte werden im Rahmen der Systematik besprochen. Eine Besonderheit fast aller CMD-Patienten, die in Therapie bzw. in der Nachsorge sind, ist eine Schiene. Je nach Behandlungsphase wird 24 Stunden eine spezielle Funktionsschiene, die so genannte CMD-Schiene, getragen. In der Nachsorge beschränkt sich dies auf die Nacht oder in stressbedingten Phasen. Der Patient benötigt unsere fachliche Unterstützung, um jede Therapiephase mit gesunden Zähnen und gesundem Zahnhalteapparat zu überstehen. Dies beinhaltet die regelmäßige Kontrolle der Schiene bei jedem Termin; und in der Anfangsphase ein Termin beim Zahnarzt, um die Schiene neu einzuschleifen, ehe das Kiefergelenk bei der Prophylaxesitzung länger beansprucht wird.

Abgesehen von einigen Details läuft eine Prophylaxesitzung bei unseren CMD-Patienten grundlegend nach der gleichen Systematik, wie jede andere Sitzung auch, ab.

Die Anamnese

Im Rahmen der Anamnese nehmen wir die Vorgeschichte des Patienten auf, fragen regelmäßig wieder nach seinen aktuellen Beschwerden und Veränderungen, Unfällen, häufigen Besuchen bei Orthopäden, Kopf- und Nackenschmerzen. Je genauer die Anamnese desto gezielter können wir den CMD-Patienten unter all´ den anderen Risikopatienten herausfinden und individuell betreuen. Die Kombination von Fragebogen und Gespräch hat sich gut bewährt. Zudem schafft man durch das gemeinsame Erörtern eine intensivere Bindung zum Patienten, der sich auch in seiner weiteren Entwicklung immer individuell betreut fühlen wird. Um es deutlich zu machen: CMD wird im Hinblick auf Parodontitis als Risikofaktor angesehen.

Die Basisdiagnostik

Auch bei unseren erwachsenen Patienten wird zur Basisdiagnostik immer eingefärbt (z. B. Miratone TwoTone); aus Gründen der Didaktik, zur Dokumentation und Remotivation des Patienten. Die Lingualflächen sind für viele Patienten schwer zu reinigen. Beläge an diesen Stellen sollten unser Interesse wecken und eine entsprechende Reinstruktion des Patienten nach sich ziehen, da dort eine maximale Krafteinwirkung z. B. durch das Knirschen zu parodontalen Schäden führen kann.
Das kann im schlimmsten Fall Zahnverlust, Knochenabbau, fehlende Kiefergelenkabstützung führen. Zur Ergänzung werden die wichtigsten Indizes wie für API, BOP, ST, AL aufgenommen.
Denn gerade zwischen PA- und CMD-Patienten besteht nicht selten eine Verbindung, die man nicht unterschätzen sollte, und die nur durch engmaschiges Screening erkannt und angemessen behandelt werden kann.
Zur weiterführenden Diagnostik und Risikoabschätzung kommen Speichel- und Keimtests infrage. Mittels Speicheltest werden das individuelle Kariesrisiko sowie Speichelfließrate und Pufferkapazität festgestellt, und entsprechende Maßnahmen eingeleitet.

PA als falsche Fährte

Zahnlockerungen, Taschenvertiefungen, Rezessionen, Stillman Clefts: Die scheinbar eindeutigen PARO-Befunde sind oftmals auch eine falsche Fährte in Richtung Parodontitis. Treten diese Symptome isoliert (vereinzelte Zähne) auf, könnte es sich auch um eine CMD handeln. Oftmals sind PARO-Symptome wie keilförmige Defekte vorhanden. Die Patienten haben jedoch eine gute Mundhygiene. Das heißt: niedriger PI und kaum Konkremente im supra- sowie im sublingualen Bereich. Es besteht auch die Möglichkeit, dass ein CMD-Patient bereits eine PARO hatte oder infolge der eingeschränkten Mundhygienefähigkeit entstehen kann. Auch dies ist nicht zu unterschätzen, weil die CMD die Prognose der PA verschlechtern bzw. in der Kombination beider die Zahnlockerung noch beschleunigt werden kann. Aus diesem Grund sollten Parodontitis-Markerkeime bestimmt werden.

Ultraschall und Feindepuration

Die Zahnreinigung sollte spezifisch – je nach Patientenfall – gestaltet werden. Es wird sowohl nach den Wünschen des Patienten als auch nach den Erfordernissen der Situation mit Ultraschallgeräten und/oder Handinstrumenten gereinigt. Ziel ist es, eine möglichst saubere Wurzeloberfläche zu schaffen, während beim CMD-Patienten das Erreichen einer glatten und sauberen Zahnoberfläche oberstes Ziel ist. Dies erweist sich in der Praxis oftmals als schwierig, da eine 24-Stunden-Funktionsschiene zu einer  erhöhten Plaqueakkumulation führt und die natürliche Speichelfließrate deutlich reduziert. Eine natürliche Selbstreinigung kann demnach in diesen Bereichen nicht mehr gewährleistet sein. Umso engmaschiger sollte der Recall bei CMD-Patienten sein.

Politur

Unser Ziel: Glatte Zahn- und Wurzeloberflächen, damit der Patient eine optimale Ausgangssituation für die häusliche Mundhygiene hat. Die Abfolge der Polierpasten (Abrasionswerte) hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: Sowohl die Oberflächenbeschaffenheit der Zähne und Verfärbungen als auch die Stellung der Zähne (Schachtelstellung) entscheiden über die Pasten und die verwendeten Hilfsmittel wie Kelche, Polierbürstchen, Polierstreifen und weitere individuelle Hilfsteile. Je optimaler unsere Reinigung und Politur, desto schwieriger ist die Neuanhaftung von Plaquebakterien.

Fluoridierung

Im Praxisalltag werden meist Lacke, Gelees oder Fluids verwendet; je nach Erkrankungsbild der Zähne. Empfehlungen für Zahncremes werden ebenso an die Patientensituation individuell angepasst.

Recall

Zur Festlegung des Recallintervalls und der Anzahl der zunächst vereinbarten Termine bildet der Vergleich zwischen Anfangsdiagnostik und Abschlussbefund in Kombination mit der Risikoabschätzung die Basis. Zusätzlich unterscheiden wir zwischen PA- und CMD-Patienten: Sind bei einem PA-Patienten die Taschentiefen stabil und der BOP-Wert unauffällig, wird dieser Patient in das Recall, z.B. alle drei Monate, wieder einbestellt. Beim CMD-Fall sieht das etwas anders aus: Dieser wird während der Schienenbehandlung öfter zur professionellen Zahnreinigung einbestellt, da er durch die Schiene meist selbst nicht in der Lage ist, eine optimale Mundhygiene sicherzustellen. Ein EDV-gestütztes Kurzcheckprogramm (MSA-Doku) ist übrigens seit April kostenfrei im Internet unter www.cmd-therapie.de abrufbar.

Das kleine Extra: Die Schiene

Wenn unsere CMD-Patienten 24 Stunden täglich eine Schiene, also einen Fremdkörper, im Mund haben, verdient diese auch in jeder unserer Prophylaxesitzungen Aufmerksamkeit.
Funktionsprüfung, Sitz und die Frage nach eventuellen Störstellen sind ein Muss. Deshalb an dieser Stelle einige Tipps, die die Prophylaxefachkraft dem Patienten mit auf den Weg geben kann. Viele sind dankbar für Erläuterungen (wie man mit der Schiene umgehen soll und sie pflegen kann), die den „Schienenalltag“ etwas erleichtern:
• Spezielle Zahncremes wären zu empfehlen: Ajona® und elmex® haben bessere Ergebnisse bei der Entfernung von Verfärbungen. Wir empfehlen eine härtere Zweitzahnbürste für die Schiene, damit mehr Druck möglich ist.
• Zur Reinigung sollte die Schiene ca. 10 Minuten 1x wöchentlich in lauwarmes Essigwasser gelegt werden. Ab und an können auch Reinigungstabletten genutzt werden, nur nicht zu oft, da der Kunststoff angeraut wird und sich mehr Plaque und Verfärbungen anlagern können.
• Eine regelmäßige Schienenreinigung wäre von Vorteil, da die Schiene auf Materialfehler kontrolliert und notfalls gleich repariert werden kann. Jeder Sprung muss sofort repariert werden, falls möglich gleich direkt in der Praxis. So wird die Gefahr der Schienenveränderung bei Reparatur minimiert.

Das Wichtigste ist auch hier: Zuhören, wo Probleme liegen.

Einfühlsam, aber konsequent sein

„Nicht ganz einfach“ würden wir im Leben außerhalb der Praxis viele unserer Patienten charakterisieren. Dennoch sollten wir alle als Praxisteam immer im Hinterkopf haben, dass viele unserer CMD-Patienten bereits einen langen und sehr schmerzhaften Weg hinter sich haben, der sich schnell einmal auf das „Gemüt“ schlagen kann. Wer ständig unter Schmerzen leidet, reagiert nicht „normal“. Daher darf man die eine oder andere Bemerkung „nicht persönlich“ nehmen. Die meisten Patienten bauen aufgrund der durchgemachten Enttäuschungen bzw. unerfüllten Erwartungen bei Vorbehandlern auch nicht so schnell Vertrauen auf. Der Patient sollte von Anfang an darüber informiert werden, dass die Erfolgsprognose von vielen Faktoren abhängt.
Unser Aufgabe ist es, einfühlsam zu sein, aber nicht zuviel Mitleid zu zeigen – und ja, das ist ein schwieriger Balanceakt. Viele Patienten sind anfangs distanziert, weil ihr Leben seit Jahren von Schmerzen geprägt ist und sie keine Hilfe bekommen haben. Schön ist es aber immer wieder zu erleben, wie die Patienten beim „Anschlagen“ der Therapie dann schnell aufblühen und ihr Leben wieder an Qualität gewinnt.

Autorin:
Barbara Bergmann
Prophylaxeassistentin in Wien