Themen

Wissenswertes für Prophylaxe-AssistentInnen erwartet Sie im Bereich Prophy-Themen.
Filtern Sie nach der gewünschten Kategorie, geben Sie Ihren individuellen Suchbegriff
ein und finden Sie so alle Artikel zum gewünschten Thema.

Keine halben Sachen machen

By: | Tags: , , , , , | Comments: 0 | Oktober 8th, 2009

Die Parodontitis aus ganzheitlicher Sicht.

In Ländern mit hohem Lebensstandard und fortgeschrittener Technisierung sind etwa 70-80% der Bevölkerung von Zahnfleischerkrankungen betroffen, weswegen man mit Fug und Recht von einer echten Zivilisationserkrankung sprechen kann.


Der Mundraum des Menschen ist ein äußerst komplexes Ökosystem, das von einer Vielzahl von Bakterien besiedelt ist. An die 500 unterschiedlichen Bakterienarten, in einer Gesamtzahl von mehr als 500 Millionen Einzelbakterien, leben in unserem Mund; zugleich ist er auch der Beginn des Verdauungssystems. Nur diesen Bereich können wir durch Riechen, Schmecken und Tasten bewusst wahrnehmen; und aktiv durch kauen beeinflussen. Im feuchten Milieu des Mundraumes organisieren sich die Bakterien an den Zähnen und in den Zahnfleischfurchen in Form eines Biofilmes. Im gesunden Zustand überwiegen dabei die positiven – „gesund machenden“ – Bakterien; die negativen – „krank machenden“ – sind in kleinerer Zahl vorhanden. Bei falscher oder mangelnder Mundhygiene entwickelt sich der Biofilm zum sichtbaren Zahnbelag, und es kommt zu einer Verschiebung der Bakterienbesiedelung in den negativen, anaeroben Bereich. Das Zahnfleisch reagiert auf diese  Veränderung mit einer Entzündung. Es ist gerötet, geschwollen und blutet bei Berührung. Dieser Zustand wird als Gingivitis bezeichnet. Durch eine  professionelle Mundhygiene und tägliche effiziente Reinigung kann dieser  Zustand wieder rückgängig gemacht werden. Unter bestimmten Umständen  kann eine Gingivitis in eine Parodontitis (= Zahnbettentzündung) übergehen.

Kriterien einer Parodontitis

  • Entzündungszeichen
  • Zahnfleischschwund
  • Zahnwanderung
  • Zahnlockerung
  • Zahnausfall
  • Mundgeruch

Die vier „Kardinal-Faktoren“ für das Entstehen einer Parodontitis

Faktor 1 – Die Bakterien
Auslösende, negative Bakterien – wir kennen ca. 20 unterschiedliche Arten – müssen in ausreichender Anzahl vorhanden sein. Entsprechend der Art und der Anzahl dieser Bakterien ist der Verlauf der Entzündung unterschiedlich.

Faktor 2 – Das Milieu
Das bestehende Milieu muss dazu geeignet sein, die Virulenzfaktoren (krankmachende Potenz) der Bakterien zu fördern.

Lokale Bedingungen:

  • Vorhandensein von Zahnbelag, Zahnstein und/oder Konkrementen
  • falsche, mangelnde Mundhygiene
  • schlechte Füllungs- bzw. Kronenränder

Allgemeine Bedingungen:

  • Ernährung mit überwiegend vitalstoffarmen, denaturierten Nahrungsmitteln (z.B. „Fast Food“)
  • Übersäuerung durch stark eiweiß- und zuckerhaltige Nahrungsmittel
  • Einnahme unterschiedlicher Medikamente
  • Alkoholkonsum und Rauchen
  • Psychischer und physischer Stress

 

Faktor 3 – Das Immunsystem
Je schwächer das Immunsystem ist, desto schwächer ist natürlich auch die Abwehrreaktion des Körpers auf die Parodontitis-fördernden Faktoren. Eine Schwächung des Immunsystems kann durch Umweltgifte in der Nahrung, im Haushalt, am Arbeitsplatz oder auf der Straße auftreten. Auch eine Belastung durch Schwermetalle (z.B. Amalgam, Piercings etc.) kann das Immunsystem schwächen.

Faktor 4 – Die genetische Disposition
Die genetische Disposition für das vermehrte Auftreten einer Parodontitis ist ererbt und daher von Geburt an vorhanden. Im Normalfall reagiert der Körper auf jeden bakteriellen Angriff mit der Bildung von Zytokinen (=Entzündungsmediatoren), die die Erreger abtöten sollen. Diese Zytokine können aber auch körpereigene Zellen, unter anderem auch im Gewebe des Zahnhalteapparates, zerstören. Bei etwa 30% der Bevölkerung ist so ein Defekt des Immunsystems vorhanden. Es kommt dadurch zu einer lokalen Überreaktion des Immunsystems, was in Folge zu einer raschen Zerstörung des Zahnhalteapparates führen kann.

Ausprägung und Zusammenspiel entscheiden

Diese vier Faktoren machen verständlich, dass es sich bei einer Parodontitis nicht um eine isolierte Entzündung des Zahnhalteapparates handelt, sondern vielmehr Teil eines Symptomenkomplexes ist. Je nach Ausprägung der vier entscheidenden Faktoren und ihrem Zusammenspiel entwickelt sich eine leichte, langsam fortschreitende oder eine aggressive, rasch fortschreitende Parodontitis. Die ganzheitliche Betrachtung der Parodontitis macht auch klar, dass sie Auswirkungen auf den gesamten Organismus haben kann. Die  häufigsten, und nicht ungefährlichen Co-Risiken einer Parodontitis sind:

  • eine generell erhöhte Entzündungsbereitschaft
  • eine erhöhte Thromboseneigung
  • ein erhöhtes Schlaganfallrisiko
  • ein erhöhtes Herzinfarktrisiko
  • ein erhöhter Insulinbedarf bei Diabetikern

Therapie der Parodontitis aus ganzheitlicher Sicht

Lokale therapeutische Maßnahmen:

Initiale Hygienemaßnahmen mit professioneller Reinigung der Zähne durch Zahnarzt oder Prophylaxe-Assistentin bis zum tiefsten Punkt des Zahnfleisches. Dabei ist es wichtig, sowohl alle weichen Beläge als auch Zahnstein und Konkremente restlos zu entfernen. Ziel ist es, den pathologischen Biofilm zu zerstören und dessen Neubildung mit überwiegend positiven Bakterien zu ermöglichen.

Mundhygienetraining mit dem Ziel, jeden einzelnen Zahn im Rahmen der häuslichen Mundhygiene rundum säubern zu können und in Folge sauber zu halten. Recall mit entsprechender Kontrolle der häuslichen Mundhygienemaßnahmen und professionelle Reinigung in individuell festzulegenden Abständen.

Allgemeine therapeutische Maßnahmen:

Änderung des Milieus durch

  • Darmsanierung und Ausgleich des Säure-Basen-Haushaltes
  • Ernährungsumstellung in Richtung vitalstoffreicher Nahrungsmittel
  • Veränderung des Kauverhaltens zu einem bewussten und intensiveren Kauen der Speisen
  • Förderung von regelmäßiger Bewegung an der frischen Luft
  • Maßnahmen zum Stressausgleich
  • Reduktion von Genussgiften (Nikotin, Alkohol, Kaffee, Zucker, Drogen)

Stärkung des Immunsystems durch

  • Reduktion der Umweltbelastung (Wohnbereich, Arbeitsplatz)
  • Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln
  • Orthomolekulare Therapie
  • Schwermetallausleitung
  • Reduktion des Medikamentenverbrauchs in Abstimmung mit den behandelnden Ärzten (Kortison, Immunsuppressiva, Antibiotika, Sulfonamide, Imidazol, hormonelle Kontrazeptiva/„Pille“)
  • Einsatz von Regulationsmaßnahmen wie Akupunktur und/oder Homöopathie

Die Genese der Parodontitis zeigt deren ganzheitlichen Ansatz, weshalb es auch bei der Therapie sinnvoll erscheint, eine ganzheitliche Betrachtungsweise ins Auge zu fassen; umso mehr, da die Erkrankungen, die im Kontext einer Parodontitis gehäuft auftreten, teilweise durchaus lebensbedrohliche Dimensionen haben können.

 

Autor:
Dr. med. univ. et med. dent.
Wolfgang Müller
Zahnarzt, Spezialist für Parodontologie
der ÖGP